Die Schlüssel des Lebens unterm Röntgenlicht
Der Chemiker Manfred Weiss leitet die MX-Beamlines: Hier untersuchen Forscher die Struktur von kristallisierten Proteinen – meistens auf der Suche nach neuen Medikamenten.
Anm. der Redaktion: dieser Artikel erschien März 2019 in der HZB-Zeitung "lichtblick". Einige Zahlen in dem Artikel wurden jedoch aktualisiert. Während der Pandemie finden die meisten Messungen "remote" (also, ferngesteuert) statt, das bedeutet die Nutzer schalten sich von zu Hause online dazu.
An den Anruf morgens um 4 Uhr kann er sich noch gut erinnern: Manfred Weiss hatte Rufbereitschaft, am anderen Ende der Leitung waren die Wissenschaftler, die gerade an einer seiner Beamlines ihre Experimente machten.
»Wir sind fertig, alles hat gut geklappt – vielen Dank«,
teilten sie dem schlaftrunkenen Chemiker mit. Ein paar Jahre liegt das zurück, und Weiss muss schmunzeln, wenn er daran denkt: »Das war der skurrilste Anruf, den ich bis jetzt bekommen habe.«
Diese Szene sagt viel aus über die Arbeit von Manfred Weiss, der am Elektronenspeicherring BESSY II für die Experimente im Bereich der makromolekularen Kristallographie zuständig ist: darüber, dass sein Team rund um die Uhr im Einsatz ist, um die Wissenschaftler aus aller Welt zu betreuen, die hier ihre Messungen vornehmen – und auch darüber, wie zufrieden die Nutzer sind, dass sie ganz selbstverständlich mitten in der Nacht einfach nur Dankeschön sagen möchten. Von den drei sogenannten »MX-Beamlines«, die das Team betreut, geht es mit ein paar Schritten durch die Cafeteria des HZB und das Treppenhaus hinüber ins Büro von Manfred Weiss. Auf seinem Schreibtisch türmen sich Papierstapel als sichtbarste Zeichen des Ansturms, den Weiss und seine Kollegen bewältigen müssen:
Aus aller Welt kommen Forschergruppen und Unternehmen, die mit dem Röntgenlicht von BESSY II ihre Proben untersuchen wollen.
Kristallisierte Proteine sind es, die hier unter der speziellen zerstörungsfreien Bestrahlung ihre Struktur preisgeben. Das ist beispielsweise für die Pharma-Forschung von größter Bedeutung. Wenn die Wissenschaftler herausgefunden haben, welche Moleküle im menschlichen Körper bei einer bestimmten Krankheit »verrückt spielen« (so nennt es Manfred Weiss), dann suchen sie nach Substanzen, die zielgenau an das betroffene Proteinmolekül andocken und dort als Wirkstoffe funktionieren. Um diese passenden Substanzen zu finden, müssen die Forscher deren Struktur zusammen mit dem Zielprotein ergründen – genau das geht mit Hilfe der makromolekularen Kristallographie.
An der Beamline ist viel los! Manfred Weiss bereitet eine Probe vor, die er dann in Stickstoff eintaucht.
Bild: Michael Setzpfandt
Wenn Manfred Weiss über seine Arbeit spricht, hört man einen leichten süddeutschen Einschlag. Er wuchs in Baden-Württemberg auf, als erster in seiner Familie ging er an die Universität – »und die Sprachfärbung habe ich als Erinnerung mit dabei, die kriegt man nicht weg«, sagt der 55-Jährige. Während des Studiums blieb Weiss seiner Heimat treu, er schrieb sich in Freiburg ein und fand schnell Gefallen an der Strukturbiologie, die damals erst am Anfang stand.
»Ich bin genau zur richtigen Zeit in diesen Forschungsbereich gekommen«,
sagt Manfred Weiss im Rückblick. Ein Jahr lang verbrachte er noch vor dem Diplom an einer Partneruni in den USA, nach der Promotion ging er als Postdoc nach Los Angeles. »Das war mehr Neugier als Karriereplanung«, sagt er bescheiden und lacht. Ihn köderten die Möglichkeiten in den USA, die gerade zu jener Zeit beträchtlich waren: Damals, gegen Mitte der 1990er-Jahre, befand sich die makromolekulare Kristallographie in ihrer expansivsten Phase. Nachdem die deutschen Forscher Johann Deisenhofer, Robert Huber und Hartmut Michel im Jahr 1988 den Nobelpreis gewonnen hatten, wurde die Bedeutung des Feldes weithin erkannt. Die späteren Nobelpreisträger klärten die allererste Struktur eines Membranproteins - des Photoreaktionszentrums - auf – mit den gleichen bahnbrechenden Verfahren, das Manfred Weiss kurz darauf in seiner Doktorarbeit anwendete, in der er die Struktur eines porenbildenden Membranproteins aufklärte.
Während er in den Vereinigten Staaten arbeitete, entstanden in Deutschland allenthalben Forschungsgruppen, die sich mit der makromolekularen Kristallographie beschäftigten. Eine davon war in Jena am damaligen Institut für Molekulare Biotechnologie angesiedelt; für eine Stelle dort kam Weiss 1996 wieder nach Deutschland zurück. Fünf Jahre später wechselte er die Seiten.
»Ich wurde quasi vom Nutzer zum Betreiber der Beamline«,
sagt er schmunzelnd – er selbst untersuchte zwar auch noch seine eigenen Proben, aber seine Hauptarbeit bestand darin, Kollegen an den Beamlines zu unterstützen, die das Europäische Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) am Deutschen Elektronen- Synchrotron (DESY) in Hamburg betreibt. Und bei dieser Aufgabe ist er geblieben, als Manfred Weiss 2009 seine Stelle am HZB antrat. Jetzt klopft es an der Tür, ein Doktorand steckt den Kopf herein. »Du, ich habe noch kein Dauer- Dosimeter gekriegt und müsste mal rüber zur Experimentierhütte«, sagt er. Auch solche Anfragen, sagt Manfred Weiss, gehören zu seinem Job. Sein Team besteht aus zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, da gibt es immer hier und da etwas zu regeln.
Die Mannschaft ist bestens eingespielt, gemeinsam schafft das Team ein gewaltiges Pensum: Von allen biologischen Strukturen, die in Deutschland bestimmt werden, gehen zwei Drittel auf die drei MX-Beamlines von BESSY II in Adlershof zurück. »Die Entwicklung ist schon verrückt «, sagt Manfred Weiss kopfschüttelnd.
»Als ich mit meiner Doktorarbeit beschäftigt war, dauerte die Messung an einem Kristall eine ganze Nacht. Heute schaffen wir das in zehn, höchstens 15 Minuten.«
Ein höherer Automatisierungsgrad, bessere Detektoren und nicht zuletzt die langjährige Erfahrung aller Beteiligten stecken hinter dieser Beschleunigung. Und natürlich die Stabilität von BESSY II. »Wer 24 Stunden Strahlzeit bei uns gebucht hat, der kriegt auch 24 Stunden«, so formuliert es Manfred Weiss trocken. Nahezu 3.700 Proteinstrukturen sind an den MX-Beamlines bislang bestimmt worden, die damit mit Abstand die produktivsten in Deutschland sind.
Bei den Nutzern spricht sich die Zuverlässigkeit natürlich herum, die Experimentierhütten sind stark überbucht. Rund 120 Forschungsgruppen kommen regelmäßig vorbei, 40 Prozent von ihnen stammen aus Deutschland, der Rest verteilt sich auf viele Länder Mittel- und Osteuropas, auf Skandinavien und selbst Israel. Auch Unternehmen kommen regelmäßig, um mögliche neue Wirkstoffe zu untersuchen. Während diese Messungen laufen, brütet Manfred Weiss schon über den
nächsten Aufgaben und denkt manchmal auch darüber nach, welche Moleküle da wohl gerade untersucht werden. Wer weiß: Möglicherweise wurden hier schon die Grundlagen für ein bahnbrechendes Krebsmedikament gelegt – vielleicht sogar irgendwann um 4 Uhr morgens, wenn Manfred Weiss das Handy neben dem Kopfkissen liegen hat und in Bereitschaft ist, falls einmal etwas nicht funktionieren sollte.
Kilian Kirchgessner (03.2019)