„Mich freut es wahnsinnig, wie international wir an BESSY II inzwischen sind“

Dr. Antje Vollmer leitet die Abteilung Nutzerkoordination an der Röntgenquelle BESSY II und ist seit 2021 Sprecherin der Facility BESSY II.

Dr. Antje Vollmer leitet die Abteilung Nutzerkoordination an der Röntgenquelle BESSY II und ist seit 2021 Sprecherin der Facility BESSY II. © HZB/D. Ausserhofer

Die Welt zu Gast am HZB: Aus sehr vielen Ländern der Welt reichen Forscher*innen Anträge auf Messzeit bei BESSY II ein.

Die Welt zu Gast am HZB: Aus sehr vielen Ländern der Welt reichen Forscher*innen Anträge auf Messzeit bei BESSY II ein. © HZB/J. Politt

Synchrotronstrahlungsquellen sind seit 75 Jahren unverzichtbar für den Erkenntnisgewinn. Dr. Antje Vollmer spricht über die internationale Vernetzung, einen neuen Rekord an der Röntgenquelle BESSY II – und darüber, wie sie allein schon an den Forschungsanträgen ablesen kann, welche gesellschaftlichen Probleme gerade besonders drängend sind.

Frau Vollmer, Sie haben 1994 zum ersten Mal an BESSY gearbeitet…

Antje Vollmer: Ja, das war während meiner Doktorarbeit, schon in der ersten Woche hatte ich da Messzeit bekommen. Und seitdem hat sich richtig viel verändert.

Erzählen Sie mal!

Die Nutzung der Synchrotronstrahlungsquellen ist deutlich breiter geworden. An BESSY I kamen damals 90 Prozent der Projekte aus der Physik. Heute sind es bei BESSY II 45 Prozent, der ganze Rest verteilt sich vor allem auf Nutzerinnen und Nutzer aus der Chemie, Biologie, Biochemie, Medizin oder auch Archäologie.

Bedeutet das auch, dass sich die wissenschaftlichen Fragen verändert haben, auf die man mit Hilfe der Synchrotronstrahlung Antworten sucht?

Ganz klar. Heute ist die Motivation ausgeprägter, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen einen praktischen, einen gesellschaftlichen Nutzen zu ziehen. Besonders deutlich sieht man das bei großen Problemen wie etwa der Corona-Pandemie: In deren erstem Jahr ist durchschnittlich alle fünf Tage eine Publikation zu Corona erschienen, hinter der Arbeiten an einem Synchrotron standen – nicht nur, aber auch hier bei uns.

Haben Sie an BESSY II gleich zu Beginn der Pandemie systematisch Messzeit für die Corona-Forschung freigeräumt?

Wir haben sofort einen Fast-Track dafür an allen Experimenten eingeführt. Der wurde nicht nur für die Forschung an Proteinstrukturen genutzt, wo er bereits seit Jahren praktiziert wird, sondern es ging zum Beispiel auch um Aerosolverteilung in der Luft. In der Phase haben wir übrigens einen neuen Rekord aufgestellt: Da vergingen von der Antragsstellung bis zur Messung gerade einmal drei Tage – normalerweise liegt der Vorlauf bei einem halben Jahr.

Spiegeln sich auch außerhalb von Corona-Zeiten die gesellschaftlich brennenden Themen in den Anträgen wider, die Sie auf den Tisch bekommen?

Wir sehen tatsächlich, welche Fragen gerade besonders spannend und relevant sind. Da kommt beispielsweise das Thema Graphen, und auf einmal schnellt die Zahl der Anträge nach oben, bis sie dann irgendwann wieder nachlässt. Ein solcher Zyklus dauert ungefähr zehn Jahre. Momentan steht die Energieforschung hoch im Kurs und ich bin mir sicher, dass sie uns viel, viel länger beschäftigen wird als die üblichen zehn Jahre. Aber natürlich verschieben sich innerhalb dieses großen Themenfeldes die Schwerpunkte. Anfangs ging es vor allem um die Solarzelle, derzeit stehen alle Aspekte rund um die Energiespeicherung im Fokus. Wasserstoff, Batterieforschung, Elektromobilität, synthetische Kraftstoffe – alles das sind Themen, die wir vor 20 Jahren noch nicht bei uns gefunden hätten.

Wie verhält es sich denn mit den Nutzenden-Gruppen, werden die auch diverser?

Oh ja! Ich habe neulich mal auf die 30 Jahre alten Nutzungsdaten geschaut, da hatten wir in einem Jahr zum Beispiel 114 deutsche Nutzenden-Gruppen verzeichnet, zwei österreichische und eine australische. Heute machen die internationalen Nutzerinnen und Nutzer fast die Hälfte aus. Mich freut es einerseits wahnsinnig, wie international wir hier inzwischen sind.

Das hört sich so an, als gäbe es auch noch eine andere Seite.

Leider ist es so, dass zum überwiegenden Teil die nördliche Hemisphäre in unserer Nutzenden-Community vertreten ist. Manchmal ist jemand aus Nord- oder aus Südafrika dabei, aber aus Zentralafrika haben wir nach wie vor keine Nutzer*innen-Gruppen.

Warum ist das so?

Das hängt sicherlich mit den Gesellschaften dort zusammen. In Afrika gibt es unter einer Million Einwohnern 169 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. In Europa ist dieser Anteil zwanzigmal höher. Mich erinnert das auch immer an das TNA-Programm der Europäischen Union, das es früher einmal gab…

…TNA steht für trans-national access…

…und bei dem die EU die Kosten trug, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ein Experiment eine Landesgrenze überschritten. Es sollte die maximale Mobilität in Europa fördern. Ich bin damals quer durch Europa gereist und habe bei Forschenden für BESSY II geworben – in Rumänien, in Bulgarien, in Kroatien, in Portugal und etlichen anderen Ländern. Und überall traf ich auf Vorbehalte. In Osteuropa war die verbreitete Haltung, dass man sich Aufenthalte in Deutschland sowieso nicht leisten könne – obwohl sämtliche Kosten einschließlich der Reise gedeckt waren.

Und in Südeuropa gingen die Vorbehalte eher in die Richtung, dass »wir im Norden« ein eingespielter Club seien und sowieso die Anträge aus dem Süden nicht ernst nähmen.

Für das, was Sie jetzt ansprechen, hat sich ja der Begriff »Science Diplomacy« eingebürgert.

Und als Paradebeispiel dafür gilt auch ein Teilchenbeschleuniger: das CERN, das nach dem Krieg entstanden ist und so dimensioniert war, dass es für jedes einzelne beteiligte Land allein zu groß war und es nur alle gemeinsam stemmen konnten. Ein jüngeres Beispiel ist das Synchrotron SESAME in Jordanien. Auch das soll Forschende aus der ganzen Region zusammenbringen, einschließlich Israel. Das ist tatsächlich bahnbrechend, auch wenn es im Alltag natürlich nicht immer ganz einfach ist.

SESAME will ja zum Synchrotron auch für afrikanische Forschende werden…

…und da schließt sich der Kreis zu meiner Beobachtung, dass hier in Berlin nur wenige afrikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten. Ich hatte übrigens einen Aha-Moment bei einer Tagung der Humboldt-Stiftung. Da waren Kolleginnen und Kollegen aus Kenia, Bangladesch und Myanmar mit dabei, die zum Beispiel an der Wasserspaltung arbeiten, an nachhaltiger Energie. Viele waren zum ersten Mal auf einer internationalen Konferenz, weil sie sich das sonst gar nicht leisten können. Weil es aber wegen Corona ein virtuelles Format war, konnten sie auf einmal dabei sein. Da ist mir klar geworden: Oft haben wir einfach ganz Afrika aus dem Prozess ausgeschlossen, der bei Helmholtz brain circulation heißt – einfach, weil viele Menschen dort aus finanziellen Gründen nicht reisen können. Um sie einzubinden, sollten wir solche Meetings in Zukunft auf jeden Fall hybrid machen, damit sie sich zumindest online einklinken können. Das wäre schon einmal ein wichtiger Schritt.

Dieses Interview haben wir im Januar 2022 geführt. Was würden Sie heute im Angesicht des Krieges gegen die Ukraine hinzufügen?

Der Angriffskrieg des russischen Staates gegen die Ukraine schockiert uns alle und zeigt, wie uns Entwicklungen, die wir in Europa nicht mehr für möglich gehalten hätten, überrollen. Dieser Krieg verlangt eine klare Haltung gegen die Aggression und hat zu deutlichen, sichtbaren Maßnahmen wie die sofortige Einstellung jeglicher Zusammenarbeit mit russischen Institutionen geführt.

Die Wissenschaft ist in der Verantwortung, sich klar gegen das Verhalten des russischen Staates zu positionieren – und das haben wir als HZB getan. Dabei möchte ich betonen, dass es hierbei um die institutionellen russischen und belarussischen Einrichtungen geht, nicht um die Nationalität der Kolleginnen und Kollegen. Unsere Solidarität gilt den Ukrainerinnen und Ukrainern, aber auch den kritischen russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich mutig gegen den Krieg positionieren.

Eine Sache, von der ich fest überzeugt bin, hat der Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft gut auf den Punkt gebracht: »Wir lassen uns nicht in unserem Glauben an die verbindende Wirkung von Wissenschaft erschüttern!

Die Fragen stellte Kilian Kirchgessner. Dieser Text ist zuerst in der HZB-Zeitung "lichtblick", Ausgabe April 2022, erschienen.

 Zur Person:

Dr. Antje Vollmer leitet die Abteilung Nutzerkoordination an der Röntgenquelle BESSY II und ist seit 2021 Sprecherin der Facility BESSY II. Schon 2003 hat die promovierte Chemikerin einen Messplatz an BESSY II aufgebaut und acht Jahre lang geleitet, bevor sie vor zehn Jahren in die Nutzerkoordination gewechselt ist. Sie beschäftigt sich intensiv mit dem gesellschaftlichen Nutzen der Forschung an Röntgenquellen.

Interview: Kilian Kirchgessner

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