Portrait Annette Pietzsch: Wir untersuchen fundamentale Phänomene unserer Welt
Annette Pietzsch hat viele Jobs: Die Physikerin entwickelt Instrumente für BESSY II, mit denen Forschende beobachten können, wie Moleküle miteinander reagieren. Am liebsten steht sie selbst am Instrument und forscht. Deshalb ist sie vor zehn Jahren aus Schweden ans HZB gekommen.
Das leuchtende Grün hat sich Annette Pietzsch extra ausgesucht: Unübersehbar ragt der lange Arm des neuen Messinstruments METRIXS in die Messhütte. Bloß kein langweiliges Grau oder Edelstahl, das gibt es ja ohnehin schon genug in der Experimentierhalle. Die Physikerin baut gerade ein neues Instrument am Synchrotron BESSY II auf. Die massiven Bestandteile sind jüngst durch das Hallendach spektakulär eingeschwebt und nun frisch montiert. Nur das Herzstück, die Vakuumkammer für die Proben, liegt noch versteckt in einem großen Pappkarton. In den nächsten Wochen wartet auf das Team viel Arbeit, doch die Vorfreude ist groß: Denn das grüne Instrument ermöglicht, Flüssigkeiten mit inelastischer Röntgenstrahlung zu untersuchen. Es ist das einzige für solche Proben optimierte Instrument dieser Art – und eine Weltneuheit.
Mehr als nur ein Job
Ein Instrument aufzubauen, ist eigentlich ein Vollzeitjob. Doch Annette Pietzsch ist parallel an der Entwicklung eines weiteren Instruments beteiligt, dem meVRIXS. Es befindet sich gerade in der letzten Testphase, in der alles genau justiert wird, damit das Instrument einwandfrei im Betrieb funktioniert. Aber sie hat noch viele weitere Jobs. Einer davon ist ihr besonders wichtig: ihre eigene Forschung, für die sie selbst regelmäßig am Instrument steht und misst. Und wenn es ihre Zeit zulässt und sie nicht mehr mit dem METRIXS voll eingespannt ist, wird sie auch wieder Gastforscher*innen bei ihren Experimenten an BESSY II betreuen. Jüngst kam noch eine weitere Aufgabe hinzu: Sie sitzt als Vertreterin der Mitarbeitenden im HZB-Aufsichtsrat. »Was ich bei meiner Bewerbung für den Aufsichtsrat nicht bedacht habe, ist die zusätzliche Zeit für die Gremienarbeit. Jetzt sitze ich nicht nur im Aufsichtsrat, sondern bin auch Gast im WissenschaftlichTechnischen Rat und im Wissenschaftlichen Beirat«, gibt sie augenzwinkernd zu.
Und »nebenbei« hat sie drei Kinder zu Hause: 6, 12 Jahre und 15 Jahre alt. Sie muss – nicht nur zu CoronaZeiten – allerhand Alltagskram organisieren und permanent rotieren. Trotzdem wirkt sie nicht gestresst und nimmt sich viel Zeit. Annette Pietzsch hat ihre Haare locker zum Pferdeschwanz gebunden und trägt einen farbenfrohen Strickpulli. Seit knapp zehn Jahren arbeitet die Physikerin am HZB. Eigentlich wollte sie Astronomie studieren, die Sterne und den Himmel beobachten. Aber nach einem Besuch im Hamburger Synchrotronstrahlungslabor HASYLAB sattelte sie auf Oberflächenphysik und später auf Molekülphysik um. »Ich bin überhaupt kein Nachtmensch und als Astronomin hätte ich vor allem nachts arbeiten müssen. Deshalb war das rückblickend eine gute Entscheidung«, sagt sie.
Das schwedische Abenteuer – und warum es endete
Nach ihrem Physikstudium promovierte sie ebenfalls in Hamburg, dann hieß es Koffer packen: Pietzsch ging für mehrere Jahre als Beamline-Betreuerin an das schwedische Synchrotron MAXLab. »Das war eine tolle Zeit. Meine beiden Söhne sind in Schweden zur Welt gekommen, haben von klein auf die Sprache gelernt und besuchen heute nachmittags eine Schule in Wilmersdorf, die zusätzlichen schwedischen Unterricht anbietet.« Auch wenn sich die Familie in Schweden sehr wohl fühlte, entschied sie sich 2012 für die Rückkehr nach Deutschland. Zur Arbeitsgruppe von Alexander Föhlisch hatte Pietzsch bereits während ihrer Hamburger Zeit Kontakt. Plötzlich tat sich die Chance auf eine Stelle in Berlin auf und sie merkte: »Hey, so einen Job kann ich ja auch in Deutschland haben.« Gelockt hat sie vor allem, dass sie mehr selbst forschen konnte. »In Schweden hatte vor allem der Nutzerdienst Priorität, hier ist das Verhältnis ausgewogener.«
Forschen im Grenzbereich zwischen Physik und Chemie
Heute forscht sie im Institut »Methoden und Instrumentierung der Forschung mit Synchrotronstrahlung« im Grenzbereich zwischen Physik und Chemie. Sie untersucht funktionale Materialien, die interessante Eigenschaften haben, zum Beispiel Flüssigkeiten, Gase oder Metallkomplexe. Auch mit alltäglichen Substanzen wie Wasser beschäftigt sie sich. Obwohl Wasser überall vorhanden ist, verstehen wir sein Verhalten bisher wenig und es gibt widersprüchliche Denkschulen. »Ich finde es spannend, dass wir an BESSY II grundlegende Phänomene unserer Welt erforschen können«, sagt sie.
Für diese Untersuchungen braucht Pietzsch geeignete Methoden – und da sind wir wieder bei dem quietschgrünen METRIXS. Das Instrument ist auf die Untersuchung von Flüssigkeiten mit inelastischer Röntgenstreuung spezialisiert. Damit lässt sich studieren, was genau dort geschieht, wo Moleküle miteinander reagieren und wie die chemische Umgebung die Moleküle beeinflusst. So erhalten Forscher*innen Einblicke, wie chemische Reaktionen auf elementarer Ebene ablaufen und in einem weiteren Schritt beeinflusst werden könnten. Der herkömmliche Weg ist es, Kristalle zu untersuchen. Aber wenn die Substanzen in Flüssigkeiten gelöst in der Natur vorkommen, ist es interessanter, sie auch in dieser Umgebung zu untersuchen. »Das ist ein bisschen so: Entweder man untersucht einen lebenden Fisch, der im Wasser schwimmt, oder man untersucht einen toten Fisch im Trockenen. In beiden Fällen lernt man etwas über den Fisch, aber es sind eben verschiedene Dinge, die man herausfindet.«
Früher fuhr Pietzsch für ihre Experimente zum Paul Scherrer Institut in die Schweiz, doch beliebt waren ihre Messwünsche dort nicht. Oft wurde befürchtet, dass es durch die untersuchten Flüssigkeiten zu Verunreinigungen des Vakuums kommt. »Feste Proben sind im Experiment einfach praktischer zu handhaben«, erklärt sie. Irgendwann kam dann eine Absage aus der Schweiz. Das spornte die Physikerin an, einfach das passende Instrument an BESSY II selbst zu entwickeln – und das Ergebnis ist nun das neue METRIXS.
Mit guter Zusammenarbeit Herausforderungen stemmen
Das alles macht Annette Pietzsch natürlich nicht im Alleingang, sondern sie arbeitet in einem breit aufgestellten Team. Hinter ihrem Organisationstalent steckt eine gesunde Einstellung, wo ihre Grenzen liegen: »Ich muss nicht alles selbst machen, wenn es dafür Spezialisten gibt. Wenn man Allrounder wird und alles ein bisschen kann, ist man irgendwann nicht mehr Spezialist genug für eine Sache.« Auch in ihrer Forschung setzt sie auf Zusammenarbeit, seit Kurzem verstärkt ein Theoretiker das Team. »Wenn wir gemeinsam vor Ort sind und diskutieren, lernen wir die Sichtweise des anderen zu verstehen. Das ist unheimlich fruchtbar«, erzählt sie.
Frustrationen eröffnen neue Wege
Und noch etwas sei in ihrem Job sehr wichtig: Wissenschaftler*innen müssen frustrationstolerant sein. Oft funktionieren Dinge nicht wie gedacht, Experimente scheitern, obwohl man sie lange vorbereitet hat – eine Erfahrung, die sie schon früh selbst gemacht hat: Nach zwei Jahren musste Annette Pietzsch ihr Promotionsthema wechseln, weil sich die untersuchten Nanopartikel nicht zuverlässig reproduzieren ließen. Sie biss in den sauren Apfel und fing noch mal von vorn an. Heute hat ihr diese Erfahrung nicht geschadet, das möchte sie auch anderen Promovierenden mitgeben. Manchmal steckt man in einer Sackgasse fest, aber man sollte sich nicht davon abschrecken lassen. Denn es findet sich immer ein neuer Weg. Wem es als Wissenschaftler*in gelingt, auch mit Misserfolgen gut umzugehen, hat mit Sicherheit einen der spannendsten und erfüllendsten Jobs der Welt gefunden.
Dieser Text wurde zuerst in der HZB-Zeitung lichtblick, Ausgabe August 2021 veröffentlicht.