Wenn beim Abkühlen die Vibrationen zunehmen: Anti-Frieren beobachtet

Die Entwicklung dieses Fleckmusters mit der Zeit zeigt mikroskopische Fluktuationen in der Probe.

Die Entwicklung dieses Fleckmusters mit der Zeit zeigt mikroskopische Fluktuationen in der Probe. © 10.1103/PhysRevLett.127.057001

Ein internationales Team hat in einem Nickel-Oxid-Material beim Abkühlen einen erstaunlichen Effekt beobachtet: Statt einzufrieren, nehmen bestimmte Fluktuationen mit sinkender Temperatur sogar zu. Nickel-Oxid ist ein Modellsystem, das strukturell den Hochtemperatur-Supraleitern ähnelt. Das Experiment zeigt wieder einmal, dass das Verhalten dieser Materialklasse immer Überraschungen bereithält.

In praktisch aller Materie bedeuten tiefere Temperaturen weniger Bewegung ihrer mikroskopischen Bestandteile. Je weniger Wärme als Energie zur Verfügung steht, desto seltener wechseln Atome ihren Ort oder magnetische Momente ihre Richtung: Sie frieren ein. Ein internationales Team geleitet von Wissenschaftlern des HZB und von DESY hat nun erstmals ein gegenteiliges Verhalten in einem Nickel-Oxid-Material beobachtet, das eng mit Hochtemperatur-Supraleitern verwandt ist. Fluktuationen in diesem Nickelat frieren beim Abkühlen nicht etwa ein, sondern werden schneller.

Wir nutzten für ihre Beobachtung die innovative Technik der Röntgen-Korrelationsspektroskopie: Dabei konnten wir mittels kohärenter weicher Röntgenstrahlung die Ordnung elementarer magnetischer Momente (Spins) in Raum und Zeit verfolgen. Beim Abkühlen ordnen sich Spins zu einem Streifen-Muster an. Diese Ordnung ist bei höheren Temperaturen nicht perfekt, sondern besteht aus einer zufälligen Anordnung kleiner lokal geordneter Bereiche. Wir fanden, dass diese Anordnung nicht statisch ist, sondern auf Zeitskalen von einigen Minuten fluktuiert. Beim weiteren Abkühlen werden diese Fluktuationen zunächst immer langsamer und die einzelnen geordneten Bereiche wachsen. Soweit entspricht dieses Verhalten dem, was eine Vielzahl von Materialien zeigen: Je weniger thermische Energie zur Verfügung steht, desto mehr frieren Fluktuationen ein und nimmt Ordnung zu.

Völlig ungewöhnlich und noch nie so beobachtet war jedoch, dass beim weiteren Abkühlen die Fluktuationen wieder schneller wurden, während die geordneten Bereiche schrumpften. Die Streifen-Ordnung zerfällt also bei tiefen Temperaturen sowohl räumlich als auch durch immer schneller werdende Fluktuationen und zeigt somit eine Art Anti-Frieren.

Diese Beobachtung hilft möglicherweise dabei, die Hochtemperatur-Supraleitung in Kupfer-Oxiden (Kupraten) besser zu verstehen. In Kupraten wird angenommen, dass eine Streifenordnung ähnlich der in Nickelaten in Konkurrenz zur Supraleitung steht. Auch dort zerfällt die Streifenordnung bei tiefen Temperaturen, was bisher damit erklärt wurde, dass die sich bildende Supraleitung die Streifenordnung verdrängt. Da in Nickelaten keine Supraleitung existiert, die Streifenordnung aber dennoch bei tiefen Temperaturen zerfällt, scheint bei der bisherigen Beschreibung der Kuprat-Supraleitung ein wichtiger Aspekt zu fehlen. Möglicherweise wird die Streifenordnung in Kupraten nicht einfach nur verdrängt, sondern zerfällt auch aus intrinsischen Gründen und räumt damit das Feld für das Entstehen der Supraleitung. Ein tieferes Verständnis dieses Mechanismus‘ könnte helfen, Supraleitung zu kontrollieren.

Die Studie zeigt das Potenzial, das kohärente weiche Röntgenstrahlung für die Untersuchung von Materialien hat, die räumlich uneinheitlich sind, insbesondere solche Materialien, bei denen aus dieser räumlichen Uneinheitlichkeit neue Funktionalität erwächst. Korrelationsspektroskopie mit Lasern wird seit vielen Jahrzehnten genutzt, um z.B. die Bewegung von Kolloiden in Lösungen zu studieren. Übertragen auf weiche Röntgenstrahlung lassen sich mit der Technik die Fluktuationen magnetischer und z.B. auch elektronischer und chemischer Unordnung in Raum und Zeit verfolgen.

Die hier beschriebenen Experimente wurden an der Advanced Light Source ALS, Kalifornien, durchgeführt.

Mit zukünftigen Röntgenquellen wie BESSY III, die um viele Größenordnungen intensivere kohärente Röntgenstrahlung erzeugen werden als heutige Quellen, wird es möglich werden, diese Technik auf schnellere Fluktuationen und kürzere Längenskalen auszuweiten und damit Effekte zu beobachten, die bisher nicht erreichbar sind.

Christian Schüßler-Langeheine

  • Link kopieren

Das könnte Sie auch interessieren

  • Modernisierung der Röntgenquelle BESSY II
    Nachricht
    11.12.2024
    Modernisierung der Röntgenquelle BESSY II
    Im Fokus des Nutzertreffens 2024: Das Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) stellt das Upgrade-Programm BESSY II+ vor.  Es ermöglicht, die Weltklasse-Forschung an BESSY II weiter auszubauen und neue Konzepte im Hinblick auf die Nachfolgequelle BESSY III zu erproben.  

  • Weniger ist mehr: Warum ein sparsamer Iridium-Katalysator so gut funktioniert
    Science Highlight
    05.12.2024
    Weniger ist mehr: Warum ein sparsamer Iridium-Katalysator so gut funktioniert
    Für die Produktion von Wasserstoff mit Elektrolyse werden Iridiumbasierte Katalysatoren benötigt. Nun zeigt ein Team am HZB und an der Lichtquelle ALBA, dass die neu entwickelten P2X-Katalysatoren, die mit nur einem Viertel des Iridiums auskommen, ebenso effizient und langzeitstabil sind wie die besten kommerziellen Katalysatoren. Messungen an BESSY II haben nun ans Licht gebracht, wie die besondere chemische Umgebung im P2X-Kat während der Elektrolyse die Wasserspaltung befördert.
  • Ultraschnelle Dissoziation von Molekülen an BESSY II analysiert
    Science Highlight
    02.12.2024
    Ultraschnelle Dissoziation von Molekülen an BESSY II analysiert
    Ein internationales Team hat an BESSY II erstmals beobachtet, wie schwere Moleküle (Bromchlormethan) in kleinere Fragmente zerfallen, wenn sie Röntgenlicht absorbieren. Mit einer neu entwickelten Analysemethode gelang es ihnen, die ultraschnelle Dynamik dieses Prozesses sichtbar zu machen. Dabei lösen die Röntgenphotonen einen „molekularen Katapulteffekt“ aus: Leichte Atomgruppen werden zuerst herausgeschleudert, ähnlich wie Geschosse, die von einem Katapult abgeschossen werden, während die schwereren Atome – Brom und Chlor – sich deutlich langsamer trennen.