Synchrotrons beschleunigen Corona-Forschung
Eine Information des Komitees für Forschung mit Synchrotronstrahlung (KFS)
Synchrotrons wurden ursprünglich von Physikern gebaut, um Teilchen zu erforschen. Heute werden sie auch gegen COVID-19 eingesetzt. Die Projekte sind so vielfältig wie die Nutzerschaft: Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen wie BioNTech.
Um COVID-19 zu bekämpfen, brauchen wir Impfstoffe und Medikamente. Für ihre Entwicklung muss man das Virus SARS-CoV-2 genau kennen. Doch für diese Untersuchungen reicht die Auflösung eines normalen Lichtmikroskops nicht aus, denn das Virus selbst ist kleiner als die Wellenlänge des sichtbaren Lichtes. Kurzwelligere Photonen, zum Beispiel Röntgenstrahlen, werden mit Synchrotrons produziert. Hier zeigt sich der Vorteil der seit Jahrzehnten etablierten Forschungsinfrastruktur in Deutschland und mit deutscher Beteiligung: Synchrotron-Lichtquellen wie PETRA III und FLASH am Deutschen Elektronensynchrotron (DESY) in Hamburg, BESSY II am Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB), European XFEL bei Hamburg oder ESRF in Grenoble, Frankreich, sind solche Großforschungsanlagen. Sie gestatten es, das Virus mit atomarer Genauigkeit abzubilden.
„Das Besondere an diesen Großforschungsanlagen ist, dass dort eine große Gemeinde von Nutzerinnen und Nutzern ihre drängenden Fragestellungen bearbeiten kann. Die Bereitstellung von modernsten Messmethoden macht Synchrotrons außerordentlich attraktiv, gerade auch für die Corona-Forschung.“, sagt Prof. Dr. Jan-Dierk Grunwaldt (KIT), Vorsitzender des Komitees Forschung mit Synchrotronstrahlung (KFS).
Das Herzstück eines Synchrotrons ist ein Teilchenbeschleuniger. Dieser beschleunigt Elektronen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit. Spezielle Magnete lenken die Elektronen von ihrer Flugbahn im Synchrotron ab; beim Bremsen verlieren sie Energie in Form von Licht. Diese Photonen, die einen weiten Bereich von Infrarot bis Röntgen abdecken, werden dann genutzt, um chemische Prozesse, Zellen und Moleküle, aber auch z. B. die Ausbreitung von Aerosolpartikeln oder das Ausmaß der Schädigung des Lungengewebes von COVID-Patienten zu untersuchen.
Strahlzeit für Coronaforschung
Gleich nachdem Anfang 2020 das Genom des neuartigen Coronavirus SARS-CoV2 bekannt wurde, starteten die ersten Forschungsvorhaben an Synchtrotronlichtquellen mit deutscher Beteiligung. Dies war möglich durch ein „Fast-Track-Verfahren“: Während die begehrte Synchrotron-Messzeit normalerweise mehrere Monate im Voraus beantragt werden muss, haben die Synchrotrons ein Schnellverfahren für Coronaforschung eingerichtet und den Betrieb für diese Projekte sogar während des Lockdowns aufrechterhalten. Dies hat eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte ermöglicht.
Forschung zu Corona
BESSY II
Im Februar 2020 konnte in Berlin die dreidimensionale Struktur der Hauptprotease des Virus durch Röntgenstrukturanalyse entschlüsselt werden – ein wichtiger Angriffspunkt für Medikamente gegen COVID-19. In einem Projekt am BESSY II mit den Universitäten Hamburg und Lübeck werden mögliche Bindestellen und der richtige Aufbau für Arzneimittel untersucht. Eine vielversprechende Substanz wurde bereits gefunden.
Am Röntgenmikroskop von BESSY II ist es einem Team der Freien Universität Berlin und des HZB gelungen, Coronaviren in Zellen räumlich darzustellen. Aktuell untersuchen sie, wie die Virusaufnahme durch klinisch zugelassene Medikamente aus der Gruppe der Antidepressiva blockiert wird. Antidepressiva beeinflussen fingerförmige Ausstülpungen der Zelle, die so genannten Filopodien. Da auch das Virus an diese Filopodien bindet, kann man mit den Antidepressiva erforschen, ob diese Strukturen in der Infektion eine wichtige Rolle spielen.
Ein Team des MPI für Chemie in Mainz sowie des MPI für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen untersucht an BESSY II den Ausstoß und die Eigenschaften von Aerosolpartikeln bei verschiedenen Tätigkeiten wie Sprechen, Singen oder Husten mit Hilfe der Mikrospektroskopie, um ihre Rolle in der Übertragung von Krankheitserregern besser zu verstehen.
PETRA III
Nachdem die 3D-Molekülstruktur der Hauptprotease bekannt war, wurden am DESY in einem groß angelegten „Röntgenscreening“ rund 7000 bereits zugelassene oder sich in der klinischen Erprobung befindende Medikamente auf eine mögliche Wirksamkeit auch gegen das SARS-CoV-2 Virus getestet, in einer Kooperation von DESY, den Universitäten Lübeck und Hamburg, dem Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin und Fraunhofer IME. An PETRA III konnten 37 Wirkstoffe identifiziert werden, die an die Hauptprotease binden. Zwei dieser Wirkstoffe sind bereits in der präklinischen Testphase.
Das Mainzer Unternehmen BioNTech, der Entwickler eines der ersten Corona-Impfstoffe, forscht an PETRA III gemeinsam mit universitären Partnern nach Möglichkeiten, RNA-Impfstoffe zu verbessern.
Fachleute suchen mit Hilfe von PETRA III nach innovativen Verabreichungsformen von Corona-Medikamenten mit dem Ziel, mögliche Nebenwirkungen zu mildern.
An PETRA III haben Forscherinnen und Forscher der Universität Göttingen mit einem ursprünglich für die Untersuchung von Hirngewebe entwickelten Röntgenverfahren geschädigtes Lungengewebe von COVID-19-Patienten mit bislang unerreicht hoher Auflösung durchleuchtet. Das grundlegende Verständnis der Auswirkungen von COVID-19 ist Basis für bessere Therapien.
European XFEL
Für die Entwicklung von Medikamenten ist es wichtig, nicht nur Strukturen zu kennen, sondern auch zu verstehen, welche Prozesse ablaufen. Besonders interessant ist die Frage, wie Substanzen an das Coronavirus binden. Einmalige Einblicke in diese schnellen Prozesse haben internationale Forscherkooperationen unter Beteiligung von DESY am European XFEL gewonnen.
European ESRF
Ganze Lungen von COVID-19-Patienten konnte eine Kooperation der Universitäten Hannover, Heidelberg und Mainz unter Leitung des University College London und der ESRF untersuchen; Ziel des Projekts ist es, den gesamten menschlichen Körper mit extrem hoher Auflösung zu kartieren (Human Organ Project).
Langfristige Forschungsförderung zahlt sich aus
„Dass diese Projekte machbar waren, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer konsequenten und langfristigen Forschungsförderung. Dass wir in Deutschland diese Forschungsinfrastruktur hatten, war ein großes Glück für die Bekämpfung der Pandemie. Gute Forschung dauert einfach länger als eine Legislaturperiode.“ sagt Dr. Andrea Thorn (Uni Hamburg), Leiterin der Coronavirus Structural Task Force und Mitglied des Komitees Forschung mit Synchrotronstrahlung (KFS).
Das KFS ist eine gewählte Vertretung der mehr als 4000 Nutzerinnen und Nutzer von Synchrotronstrahlungsquellen in Deutschland und an internationalen Institutionen mit deutscher Beteiligung.