„Der Erkenntnisgewinn der Strukturbiologie ist seit fünf Jahrzehnten ungebrochen“
Prof. Dr. Udo Heinemann arbeitet am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin und forscht seit 40 Jahren in der Strukturbiologie. Von 2008 bis 2012 war er Mitglied im Advisory Committee der European Protein Database. Im Interview spricht er darüber, welchen Mehrwert die Proteindatenbank für die Forschung heute bringt und warum es wichtig ist, dass es in Berlin spezialisierte Strahlrohre für die biologische Strukturanalyse gibt.
In diesen Tagen wird der 50. Geburtstag der Proteindatenbank international gefeiert. Mehr als 170.000 Strukturen befinden sich heute darin. Welchen Stellenwert hat die Datenbank für die Forschung heute?
Die Proteindatenbank (PDB) ist Ausdruck einer gigantischen weltweiten Aktivität innerhalb der Strukturbiologie. Während in den Anfangsjahren die Zuwächse noch langsam waren, gibt es seit dem letzten Jahrzehnt eine Flut neuer Strukturen. Der Mehrwert für die Forschung ist enorm. Es gibt zwei Nutzergruppen: auf der einen Seite diejenigen, die Strukturen in die Datenbank einspeisen, und auf der anderen Seite die, die an den veröffentlichten Strukturen weiterforschen. Mit meinem Team habe ich bisher 250 Strukturen eingefüttert. In den letzten 50 Jahren haben sich die Archivierungsmedien oft geändert und einige wären für uns heute nicht mehr lesbar. Die PDB nimmt den Forschenden die nachhaltige Datenarchivierung ab. Die Strukturen werden für die Nachwelt an drei internationalen Standorten aufbewahrt, die sogar atomwaffensicher sind.
Welche Strukturen werden in die PDB aufgenommen?
Alle dreidimensionalen Strukturen, die experimentell erzeugt wurden, können in die PDB aufgenommen werden – unabhängig ob sie durch die Proteinkristallographie, Magnetresonanzspektroskopie, Kryoelektronenmikroskopie oder -tomographie gewonnen wurden. Dabei machen die Kristallstrukturen auf Basis der Röntgendiffraktion den größten Anteil aus. Bevor Strukturen in die Proteindatenbank kommen, durchlaufen sie einen Prozess der Validierung. Sie bekommen also einen Qualitätsstempel aufgedrückt.
Die wissenschaftliche Qualitätssicherung ist also auch eine wichtige Aufgabe der Proteindatenbank?
Absolut! Die Proteindatenbank hat in den letzten 50 Jahre einen großen Beitrag geleistet, um solche Standards zu setzen. Das betrifft nicht nur die Strukturen selbst, sondern auch die experimentellen Daten, die hinter den Strukturen stehen. Solche Qualitätsstandards haben sich durch intensive Diskussionen in der wissenschaftlichen Community geformt. Dieser Validierungsprozess ist sehr wichtig, denn so können sich Forschende darauf verlassen, dass es nur geprüfte, gesicherte Strukturen in der PDB gibt.
Die Proteindatenbank enthält Strukturen aus den letzten 50 Jahren. Welche Rolle spielt es, dass Forschende heute noch auf 50 oder 30 Jahre alte Strukturen zurückgreifen können?
Auch alte Daten sind sehr wichtig. In der PDB werden nicht nur Strukturen abgespeichert, sondern auch die Messdaten, die zur Strukturbestimmung geführt haben. Damit kann man heutzutage ältere Daten mit neuen Verfahren auswerten und zu verbesserten Proteinmodellen gelangen. Es gibt durchaus ältere, zunächst einmal unspektakulär erscheinende Strukturen, die später sehr viel Forschung und tolle Publikationen nach sich gezogen haben.
Haben Sie ein Beispiel parat?
Wir haben vor einigen Jahren, unter anderem durch Experimente an den MX-Beamlines von BESSY II, sogenannte Kälteschock-Proteine entdeckt, die wichtige biologische Funktionen haben. Diese Proteine sind immer noch spannend und man entdeckt bis heute neue Funktionszusammenhänge. Man kann beim Experimentieren leider nicht immer vorhersagen, welche Proteinklasse in den nächsten zehn Jahren großes Potenzial haben wird, zum Beispiel bei der computergestützten Modellierung neuer Proteinstrukturen. Hier kommen auch Methoden der künstlichen Intelligenz ins Spiel.
Sie sprachen die Bedeutung von Simulationen und KI an, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Braucht man also weniger Experimente in Zukunft?
Keinesfalls! Auch wenn es große Fortschritte in den letzten fünf Jahren im Bereich KI gegeben hat, sind Experimente essentiell. Für richtig neue Entdeckungen brauchen wir Experimente. Ein spannendes Beispiel aus der jüngsten Zeit, das wir an BESSY II entdeckt haben, sind Proteine mit so genannten UBX-Domänen. Sie binden an bestimmte ATPasen, p97-Proteine, die mechanische Aktivitäten in den Zellen steuern. Lange Zeit war man sich sicher, wie die UBX-Domänen an p97 binden und die ATPase zu Zielorten in der Zelle bringen. Doch dann haben wir vor ein paar Jahren eine UBX-Domäne gefunden, die sich vollkommen unerwartet verhielt. Wir haben etwas entdeckt, das niemand vorhergesehen hatte. Solche Entdeckungen kann man nicht durch Modellierungen machen.
Die Experimente dazu liefen an den MX-Beamlines von BESSY II, an denen seit 2001 strukturbiologische Untersuchungen durchgeführt werden. Wie kam es dazu?
In den späten 1990iger Jahren entstand eine Initiative, die ich als Koordinator angeführt habe. Zu ihren Zielen gehörte es, Beamlines für strukturbiologische Untersuchungen an BESSY II aufzubauen. Damals stellte das Bundesforschungsministerium viel Geld für Leitprojektverbünde auf dem Gebiet der Molekularen Medizin zur Verfügung. Aus diesem Topf bekamen wir zirka 30 Millionen D-Mark. Damit konnten wir die Erstausstattung der MX-Strahlrohre und der Messhütte, aber auch den Wellenlängenschieber zur Erzeugung des härteren Röntgenstrahls finanzieren. Auf Initiative des MX-Teams an BESSY II sind diese Beamlines in den letzten Jahren umfassend modernisiert worden. Rückblickend kann man sagen, dass unsere Startinitiative in den 1990ern zu etwas wirklich Großartigem geführt hat.
Welche Bedeutung haben die MX-Beamlines heute für die wissenschaftliche Gemeinschaft?
Die MX-Beamlines sind sehr erfolgreich und nützen einer großen Wissenschaftscommunity, die auch sehr international ist. Aus den Experimenten an den BESSY-II-Beamlines sind zahlreiche Publikationen in hochrangigen Journalen hervorgegangen. Darauf können alle Beteiligten stolz sein. Das vorwiegend weiche Röntgenlicht von BESSY II ist zwar nicht optimal für unsere Experimente. Trotzdem sind die MX-Stationen international konkurrenzfähig, weil sie toll gemanagt werden und alles, was rund um das Experiment angeboten wird, spitze ist. Dadurch gelingt es dem MX-Team, die große Nutzer-Community bei der Stange zu halten. Auch für die Berliner Universitäten sind die Experimentiermöglichkeiten an BESSY II ein wichtiges Argument, um talentierte Forschende aus der Strukturbiologie anzuwerben.
In den letzten Jahren wurden viele neue Erkenntnisse in der Strukturbiologie gewonnen. Welchen gesellschaftlichen Mehrwert hat diese Forschung?
Seitdem ich Strukturbiologe bin, also seit gut 40 Jahren, sind Erkenntnisse aus diesem Gebiet nie von den Titelseiten der Top-Journale wie Science oder Nature verschwunden. Wissenschaft folgt oft gewissen Moden und Wellen, doch die Popularität der Strukturbiologie ist seit 50 Jahren hoch und sie wird es bleiben. Bei uns geht es vor allem um die Grundlagenforschung, die einen sehr hohen Wert unabhängig von der Anwendung hat. Darüber hinaus spielen Proteinstrukturanalysen bei der Arzneimittelentwicklung eine sehr wichtige Rolle. Die Entwicklung von neuen Wirkstoffen beruht heutzutage fast immer auch auf Strukturanalysen. Sie sind ein Teil eines großen pharmakologischen Portfolios, um neue Wirkstoffe zu entwickeln. Auch hier nimmt BESSY II eine Vorreiterrolle ein. Mit dem Fragment Screening steht eine Methode zur Verfügung, um schnell verschiedene Wirkstoffe zu testen. Jüngstes Beispiel ist die Suche nach einem Arzneimittel gegen Covid-19. Hier haben Forschende hervorragende Arbeit auf dem Gebiet der Proteinanalysen des SARS-COV2-Virus geleistet – gerade auch an BESSY II.