Flüchtiges fassen
HZB-Wissenschaftler entdecken, wie eine Substanz bei Raumtemperatur ungewöhnliche Eigenschaften entwickelt. Sie wird „multiferroisch“ und damit geeignet für eine schnelle Datenspeicherung.
Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums Berlin (HZB) haben in Kooperation mit Kollegen aus Frankreich und Großbritannien ein Material entwickelt, das bei Raumtemperatur eine seltene und schwer fassbare Eigenschaft zeigt: Es ist multiferroisch – zeigt also sowohl ferroelektrische als auch ferromagnetische Eigenschaften. So kann es bei Anlegen eines äußeren elektrischen Feldes spontan seine Polarisation ändern (ferroelektrische Eigenschaft) und sich in einem Magnetfeld magnetisieren (Ferromagnetismus).
Objekt der Untersuchungen war Bariumtitanat (BaTiO3), ein ferroelektrisches Kristall. Bariumtitanat gilt als vielsprechender und kostengünstiger Rohstoff für zahlreiche Anwendungen in der Datenspeicherung. Ihre Erkenntnisse veröffentlichen die Wissenschaftler jetzt in Nature Materials unter dem Titel „Interface-induced room-temperature multiferroicity in BaTiO3”.
„Wir konnten zeigen, dass multiferroische Eigenschaften bei Raumtemperatur möglich sind”, sagt HZB-Forscher Sergio Valencia. Dieses Phänomen sei bei Raumtemperatur extrem selten: „Bariumtitanat ist ferromagnetisch“, erläutert Valencia: „Das heißt, seine magnetischen Eigenschaften lassen sich über ein elektrisches Feld beeinflussen. Wenn man von außen eine Spannung anlegt und dadurch die ferroelektrische Polarisation eines Bariumtitanat-Films umkehrt, beeinflusst dies auch seine Magnetisierung.“
Anwendbar sei dieses Phänomen bei der Datenspeicherung, so der Forscher: „Bariumtitanat als Datenträger kann durch Anlegen eines elektrischen Feldes beschrieben werden.“ Das sei viel günstiger als der traditionelle Einsatz von magnetischen Feldern, so Valencia.
Die Möglichkeit, dass man die magnetischen Eigenschaften des Materials über seine ferroelektrische Komponente bei Raumtemperatur beeinflussen kann, macht Bariumtitanat als mögliches Material für Speichermedien höchst interessant: Andere multiferroische Substanzen sind extrem schwierig zu handhaben. Damit sich die Eigenschaften zeigen, benötigt man zum Beispiel sehr niedrige Temperaturen.
Das Zusammenspiel von Ferromagnetismus und Ferroelektrizität zu entschlüsseln, ist deshalb so schwierig, weil beide Phänomene eine Art „Hassliebe“ verbindet. Ferromagnetismus benötigt andere Umweltbedingungen als Ferroelektrizität. In der Natur treten sie deshalb selten zusammen in einer Substanz auf. Geschieht dies doch, stehen sie in enger Beziehung zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. „Weil dies meist nur in extremer Kälte zu beobachten ist, sind die meisten Multiferroika für praktische Anwendungen kaum nutzbar“, sagt Sergio Valencia: „Wenn der multiferroische Effekt erst bei minus 270 Grad Celsius auftritt, kann man das Material nur mit extrem hohen Kosten in ein Gerät einbauen, das bei Raumtemperatur funktionieren muss.“
Ihre Beobachtung des multiferroischen Verhaltens dünner Bariumtitanat-Filme bei Raumtemperatur machten die Wissenschaftler am Berliner Elektronenspeicherring BESSY II des HZB.
Mit der Methode des „Soft X-Ray Resonant Magnetic Scattering“ studierten sie das magnetische Moment von Titanium (Ti)- und Sauerstoff (O)-Atomen in Bariumtitanat. Da Bariumtitanat bei Raumtemperatur eigentlich ein nicht-magnetisches Ferroelektrikum ist, induzierten sie den Ferromagnetismus durch die Nähe natürlicher Ferromagneten wie Eisen und Kobalt: Dazu brachten sie einen nur zehn Atome dünnen Film aus Eisen und Kobalt auf einen Bariumtitanat-Film auf, der nur aus vier Atomlagen besteht. „Diese dünnen Schichten braucht man auch später bei technischen Anwendungen,“ erklärt Valencia: „Sonst werden die Geräte viel zu groß.”